Wenn der Glaube nicht mehr passt

Es gibt Themen, die seit einiger Zeit eine theologische Spannung in mir auslösen. Themen die zu komplex sind, um eine simple Antwort darauf zu finden. Themen, die polarisierende Meinungen erlauben, deren Behandlung aber Umsicht und Feingefühl erfordern.
Hier erfährst du, wie ich damit umgehe.

Ein ungemütlicher Gottesdienst

Der Gottesdienst ist zu Ende. Endlich, nach mehreren Minuten Herumrutschen auf dem gepolsterten Kinosessel kann ich meinem Unbehagen Ausdruck verleihen und schnellen Schrittes den Saal verlassen. Vor der Türe trete ich ins helle Sonnenlicht und schnappe nach frischer Luft. Ich versuche meine Gedanken zu sortieren, aber es fällt mir schwer, denn ich merke, dass die Worte, die von der Kanzel geschmettert wurden, meine persönlichen Triggerpunkte im Glauben getroffen haben: Stereotype, Sexismus und Schwarz-Weiß-Denken.

Ja ich liebe Harmonie. In einer Umgebung zu leben, in der Menschen liebevoll miteinander umgehen und Happy-Vibes herrschen, finde ich angenehm. Doch so einfach ist das Leben nicht. Weder in der Gesellschaft, noch in einzelnen Familien, weder zwischen den großen Weltreligionen noch innerhalb dieser geht es immer harmonisch zu.
Es beeindruckt mich, wie Menschen den Diskurs, die fachliche Auseinandersetzung über ein bestimmtes Thema begeistern kann. Mir fällt es in solchen Momenten schwer, meine Meinung auszudrücken ohne Angst zu haben, mein Gegenüber zu verletzen, auch vor dem Hintergrund, dass wir in einer Zeit von politischer Korrektheit und großer Umsicht von Diskriminierung leben.
Dennoch merke ich, dass ich diese innere Spannung auflösen muss. Ich möchte Klarheit schaffen in diesen theologisch-ethischen Dilemmata.

Der Kern meiner Frustration.

Der wunde Punkt meines Glaubens ist die Kategorisierung von Menschen aufgrund ihres Seins oder ihres Tuns. Viele der Begegnungen, bei denen ich in den vergangenen Jahren mit verschiedensten Menschen ins Gespräch gekommen bin, zeugen von Frustrationen oder schweren Verletzungen, die durch Gemeinden und Kirchen zugefügt wurden. In einem falschen Rückschluss projizieren die betroffenen Menschen dieses schlechte Verhalten einzelner Christen auf ihr Gottesbild. Religion und Glaube vermischen sich und führen zu einer Distanzierung von Gott. 
Es geht mir hier nicht nur um ein bestimmtes Thema, sondern um den generellen Umgang mit „Andersartigkeit“ im christlichen Kontext und ich bin überzeugt, davon ist jeder von uns betroffen.
Der Blick in die Bibel zeigt mir, dass auch zur Zeit von Jesus Spannungen und ethisch schwierige Fragen in der Gesellschaft vorhanden waren: Sklaverei, Prostitution, popularistische Lehren, … 

Wie ist Jesus damit umgegangen?

Jesus hat diskutiert, nicht diskriminiert.
Er hat Gedankenkonstrukte niedergerissen, statt Mauern zu bauen.
Er suchte die Gemeinschaft mit Außenseitern, statt mit den Gelehrten.
Kategorisches Denken hat er abgelehnt und bestehende Normen kritisch hinterfragt.
Wenn er gegen ein Verhalten war, hat er dieses kritisiert, aber den Menschen geliebt.
Sein Motto war Inklusion statt Ausgrenzung.

Wie gehe ich mit kontroversen theologischen Themen um?

Ich wünsche mir mehr von diesem umsichtigen Verhalten in der christlichen Welt. Mehr Nachfragen, statt vorschnelles Urteilen. Ich wünsche mir Gemeinschaft, statt Exklusivität. Ich wünsche mir ehrlichen Austausch und Verständnis und den Fokus auf Gemeinsamkeiten, statt auf Unterschiede. Lasst uns die kontroversen Themen besprechen, aber dabei die einzelnen Menschen nicht aus dem Blick verlieren. Wir reden nicht über eine Kategorie von Menschen, sondern über einzelne Individuen, die Gott in ihrer Einzigartigkeit liebt. Komplexe Systeme, die es zu verstehen gilt und für deren Lebensfragen man selten eine einfache Antwort findet.

Ich nehme die aktuellen ethischen Fragen unserer Gesellschaft als eine willkommene Irritation meines persönlichen Glaubens an. Ein bisschen, wie ein unbequemer Schuh, der an einigen Stellen drückt.
Von den tradierten Klischees, die es nur noch um der Tradition Willen gibt, möchte ich mich verabschieden und überholte Gedankenkonstrukte ausmisten und sie durch fundierte und angebrachte Antworten ersetzen. Das braucht Zeit, viel Recherche und noch mehr Gespräche mit Gläubigen und vor Allem Nicht-Gläubigen Menschen.

Auch aus diesem Grund haben wir bei Cambio eine neue Idee umgesetzt: Tapas und Themas.  Eine Podiumsdiskussion über gesellschaftskritische Fragen, in denen Fachleute vor einem bunten Publikum miteinander über ein Thema ins Gespräch kommen. Ein Austausch über Themen wie Glaube & Wissenschaft, Yoga und Christentum, Psychologie und Glauben, etc. Das alles als Versuch, eben dieses Miteinander zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen zu schaffen. Die erste Veranstaltung im Oktober war ein voller Erfolg! Es kamen Menschen unterschiedlichsten Hintergrundes, Gläubige, Atheisten, Wissenschaftler, Philosophen und alle mit dem gleichen Ziel: Gemeinsam zu überlegen, wie wir uns trotz unterschiedlicher Überzeugungen gemeinsam eine Antwort auf komplexe Fragen finden können.  Ich liebe die Dynamiken dieser Abendveranstaltungen, denn ich beobachte dabei, dass verschiedene Meinungen diskutiert und gleichzeitig respektiert werden können, während von einem gemeinsamen Teller leckere Tapas verspeist werden. Wie wertvoll.

Kontext schafft Klarheit

Zurück vor die Tür der Gottesdienstesraums: Meine ursprüngliche Fluchttendenz ist verklungen und ich merke, dass ich so nicht nach Hause gehen kann und möchte. Ich nehme allen Mut zusammen und gehe die wenigen Meter zurück vor die Kanzel. Dort treffe ich auf den Prediger und beginne ein Gespräch. Ich will seine Motivation erfragen und seinen Kontext erfragen, der zu sexistischen Aussagen in der Predigt geführt hat. Auch nach dem Austausch fällt es mir schwer, seinen Standpunkt zu akzeptieren, doch seine Erklärung hilft mir dabei, seine Worte besser einzuordnen und interpretieren zu können.

Unsere Kontroverse bleibt bestehen, Harmonie sieht anders aus. Doch ich fühle mich nicht mehr gekränkt, nicht mehr diskriminiert. Stattdessen kann ich die unterschiedliche Meinung meines Gegenübers tolerieren (vom ursprünglichen lat. tolero “aushalten, erdulden”, freundliche Anmerkung des Korrekturlesers), ohne es auf einer persönlichen Ebene überzuinterpretieren.

Wie gehe ich persönlich mit meinem spannungsgeladenen Glauben um:

  • Wissen anhäufen. Egal ob ein Podcast über feministische Theologie, über Sexualität oder Umweltschutz, etc. – es gibt kluge Köpfe, durch die ich mich inspirieren und weiterbilden lassen kann. Z.B. bei Karte & Gebiet oder Vorträgen von Worthaus
  • Menschen fragen. Nicht über Menschen, sondern mit Menschen reden, denn diese Gespräche helfen mir, meine eigene Meinung zu finden. 
  • Selbst meine Stimme erheben. Dort wo ich Ungerechtigkeit in der Gesellschaft und Kirche wahrnehme, möchte ich nicht schweigen.
  • Meinen Glauben erneuern. Die Bibel bietet auf so viele aktuelle Themen spannende Ansätze & mit meinem gelben Stift markiere ich, wo mein Glauben noch wachsen kann und sollte, dort, wo der „Schuh drückt“

Ich befinde mich in einer kleinen Glaubensrevolution und freue mich über jede These, die ich selbst durchdacht und erarbeitet habe.

Wie geht ihr mit ethischen Themem um, die euren Glauben herausfordern? Ich freue mich über jede Anregung & Inspiration.

2 Kommentare

  1. Reiner de Vries

    Lieber Tobias, liebe Marlene,
    ich gratuliere besonders zu diesem Artikel, den ich mit Begeisterung und Gewinn gelesen habe und Wünsche euch von Herzen ein “Weiter-So” mit guten Erfahrungen, positiven Veränderungen, schlicht: den Segen unseres Herrn Jesus Christus.
    Seid lieb gegrüßt
    dein/euer Onkel Reiner

    1. Lene de Vries

      Lieber Reiner,
      vielen Dank für diese wertschätzende Worte. Wir hoffen auch, dass wir unseren Glauben immer wieder neu hinterfragen & nie aufhören uns fundierte Meinungen zu bilden.
      herzliche Grüße in den schönen Süden Deutschlands
      Lene

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