Während ich auf dem Sofa sitze und darauf warte, dass meine Wehen regelmäßiger und stärker werden, male ich mir in Gedanken immer wieder den Moment aus, in dem ich unserer kleine Tochter zum ersten Mal ins Gesicht schauen werde. Geboren in Las Palmas de Gran Canaria wird ein Leben lang in ihrem Pass stehen und damit festlegen, dass sie ein Third-Culture Kid ist (dt: ein Drittkulturkind). Doch was bedeutet es genau, Tochter von Missionaren zu sein und somit zwischen verschiedenen Kulturen aufzuwachsen?
Als Third Culture Kids oder Drittkulturkinder werden Menschen bezeichnet, die in einer anderen Kultur aufgewachsen sind als ihre Eltern oder während ihrer Kindheit und Jugend oft umgezogen sind und dabei die Kultur gewechselt haben.
Quelle: Wikipedia
Die Globalisierung treibt dieses interkulturelle Familiensystem stark voran. Vertraut man der einschlägigen Literatur, so bringt diese internationale Lebensweise sowohl Vor- als auch Nachteile für das Leben eines Kindes mit sich. Es zeigt sich, dass Third-Culture Kids von Natur aus ein stark ausgeprägtes Kulturverständnis entwickeln, das ihnen zusammen mit einer erlernten Anpassungsfähigkeit dabei hilft, sich in der schnell verändernden Welt zurecht zu finden. Gleichzeitig prägen eine gewisse Rast- und Wurzellosigkeit viele ihrer Lebensläufe.
Zuhause ist überall und nirgendwo
Mica, meine geschätzte Cambio Kollegin und Freundin, besitzt gleich drei Nationalitäten und trägt in jedem Reisepass einen anderen Nachnamen. Heute lebt sie mit mir auf der Insel Gran Canaria. Ich habe Mica gebeten, ihre Sicht auf diesen wechselhaften und interkulturellen Lebensstil zu beschreiben:
Woher kommst du? Eine sehr einfache Frage, aber gleichzeitig so kompliziert zu beantworten: Soll ich sagen, wo ich geboren bin? Wo meine Eltern herkommen? Oder vielleicht wo ich aufgewachsen bin?
Ich bin in Argentinien geboren, aber im Alter von 4 Jahren zog ich mit meiner Familie nach Teneriffa, Spanien. Ich habe dort 5 Jahre lang gelebt, bis wir nach Sevilla umgezogen sind. Im Alter von 15 Jahren beschlossen wir als Familie, nach Deutschland zu ziehen, zunächst nach Braunschweig und dann nach Hamburg. In Hamburg lernte ich meinen zukünftigen Mann kennen, und nach zwei Jahren Ehe beschlossen wir, unserer Berufung nach Gran Canaria zu folgen.
Das heißt: 3 verschiede Länder, 2 Sprachen, 5 unterschiedliche Dialekte, 16 Wohnungen und 8 verschiede Schulen.
Von klein auf erfuhr ich den bitteren Geschmack des Abschieds, lernte neue Menschen kennen und entdeckte neue Kulturen und Dialekte. Ich lernte schnell, mich in neuen Situationen anzupassen und offen gegenüber anderen zu sein. Ich lernte das Gefühl kennen, weder von dort noch von hier zu sein. Das letzte hat mich als Kind gestört, denn ich wollte unbedingt dazugehören! Ich wollte so sein wie meine Freunde in der Schule oder in der Gemeinde.
Mit der Zeit und vor allem als ich erwachsen wurde, wurde mir klar, dass ich im Laufe der Jahre meine eigene Subkultur aufbaute: Eine Mischung aus der argentinischen Kultur meiner Eltern und den Kulturen, in denen ich aufgewachsen war, der spanischen und der deutschen. Ab diesem Moment begann ich meine eigene Subkultur lieben zu lernen. Zu verstehen, dass ich nie zu 100 % in die eine oder andere Kultur passen werde. Dass mein “Zuhause” oder meine Identität nicht von einem geografischen Ort abhängt.
Mein Zuhause hängt vielmehr von all den Traditionen ab, die ich kennenlernen durfte, den argentinischen Asados und den spanischen Tortillas, dem Weihnachtsmarkt in Deutschland und dem Jahrmarkt in Sevilla, Deutsch und Spanisch… aber vor allem ist mein Zuhause dort, wo meine Beziehungen, meine Freundschaften und meine Familie sind.
Das sind Micas Erfahrungen.
Ich hoffe, dass unsere Kinder eines Tages ebenso positiv wie Mica auf ihre ersten Jahre in einer fremden Kultur zurückblicken. Dass sie ihre ersten Lebensjahre als Bewohner einer kanarischen Insel als Vorteil erleben werden. Dass sie sich (so wie Tobias und ich es versuchen) die besten Verhaltensweisen aus beiden Kulturen zu eigen machen und lernen, offen auf Menschen aus fremden Kulturen zuzugehen.
Falls ihr mehr über und von Mica lesen wollt, schaut gerne mal auf ihrem Blog vorbei. Dort erzählt sie ihre Perspektive von Leben hier auf der Insel.
Andreas
Danke für den Beitrag. Ich kann mir vorstellen, dass euch das bewegt, wie es mal euren Kids damit geht. Viele Grüße aus Augsburg
Andi